Dokumentation
Für die umgehende Rehabilitation und materielle Entschädigung von Opfern des § 175 und Wehrmachts-Deserteuren
Offener Brief
An den Herrn Bundeskanzler, die Bundesministerin der Justiz, die Fraktionsvorsitzenden und rechtspolitischen Sprecher von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag
Berlin, 8. Februar 2002
Sehr geehrte Damen und Herren,Pressemeldungen vom Anfang des Monats zufolge plant die Koalition eine umfassende rechtliche Rehabilitierung von während des Nationalsozialismus nach den §§ 175, 175a Verurteilten sowie Deserteuren der Wehrmacht. Das whk begrüßt dieses Vorhaben ausdrücklich.
Das whk ist sich aber auch der Tatsache bewußt, daß dieser Schritt für die Bundesrepublik fast 53 Jahre zu spät erfolgt Jahre, in denen die Masse der Täter juristisch weitgegend unbehelligt blieb, Pensionen bezog und bezieht sowie im Staate BRD wieder zu Ämtern bis hinauf zum Ministerpräsidenten gelangte. Als prominentes Beispiel soll der an Todesurteilen gegen Deserteure beteiligte Marinerichter Hans Filbinger genügen. Bis heute beziehen ehemalige Wehrmachts- und SS-Angehörige auch im Ausland Renten aus der Bundesrepublik, während jene, die sich dem Vernichtungskrieg entzogen oder widersetzten, weiter als vorbestrafte Verräter gelten. Das ist eine Schande.
Im Hinblick auf die wegen homosexueller Handlungen Verurteilten möchten wir zugleich daran erinnern, daß ein demokratischer Staat andere Möglichkeiten gehabt hätte. So bewertete die DDR den von den Nazis verschärften §175 von Beginn an als NS-typisches Unrecht und kehrte zur Fassung der Weimarer Republik zurück. In der sich gegenüber der DDR stets als Rechtsstaat darstellenden Bundesrepublik hingegen wurde 1957 sogar legitimiert durch das Bundesverfassungsgericht und von Bundesregierungen mitgetragen der NS-Paragraph nicht entschärft, sondern bis zu seiner ersten Liberalisierung 1969 unverändert beibehalten. Die DDR hatte ihren §175 schon im Jahr zuvor abgeschafft. In der BRD dagegen wurden nach dem übernommenen Nazi-Paragraphen bis 1969 zehntausende Männer abgeurteilt. "Es sind Fälle bekannt, in denen Homosexuelle das KZ überlebten und anschließend, noch mehrmals wegen 'gleichgeschlechtlicher Unzucht' verurteilt, bis zu fünf Jahren in bundesdeutschen Gefängnissen und Zuchthäusern einsaßen", so der Historiker Hans-Georg Stümke 1989.
Die Bundesrepublik Deutschland, die die Rechtsnachfolge des "Dritten Reiches" antrat, hat folglich noch eine gewaltige historische Schuld abzutragen. Nicht nur Rehablilitierung, sondern auch materielle Entschädigung der individuellen Opfer wären ihre mindeste moralische Pflicht. Das whk fordert hier die Konsequenzen zu ziehen aus einer Rede, die der Bundesaußenministers Joseph Fischer heute vor 18 Jahren, am 8. Februar 1984, als Abgeordneter der Fraktion DIE GRÜNEN hielt und worin er sagte: "Auch gibt es da eine weitere Bringschuld: die materielle Entschädigung der überlebenden Opfer mit dem 'Rosa Winkel' und die historische Würdigung des Leids der Homosexuellen in den Konzentrationslagern des Dritten Rei-ches." Das Bundestagsprotokoll vermerkt dazu: "Beifall bei den GRÜNEN und der SPD Zuruf von der CDU/CSU: Eine Schmierenkomödie!"
Zu dieser historischen Pflicht gehört es nach Ansicht des whk auch, die Nachkriegsopfer des NS-Paragraphen im selben Schritt zu rehabilitieren und zu entschädigen. In dieser Frage kann es keinen Kompromiß geben: Die freiheitlich-demokratische Grundordnung bliebe eine Farce, würden zwar die NS-Opfer des Paragaphen 175 rehabilitiert und entschädigt, nicht jedoch die BRD-Opfer desselben Nazi-Paragraphen. Das von einem solchen Akt ausgehende politische Signal wäre verheerend: Verurteilungen nach übernommenen Nazi-Gesetzen, welche die Bundesregierung und der Bundestag heute als Unrecht anerkennen, wären im demokratischen Staat nach dieser Logik kein Unrecht gewesen.
Das wissenschaftlich-humanitäre komitee fordert Sie hiermit eindringlich auf, alle durch die NS-Justiz und die Strafverfolgungsbehörden der BRD erfolgten Verurteilungen nach den Paragraphen 175, 175a pauschal aufzuheben und deren Opfer auch die der Nachkriegszeit unverzüglich umfassend zu rehabilitieren und sie bzw. ihre noch lebenden Angehörigen angemessen zu entschädigen. Diese Forderung betrifft auch die nach der "liberalen" Fassung des §175 StGB der DDR Verurteilten.
Hochachtungsvoll
Astrid Keller, Dirk RuderAntwort Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen