whk1503/20.10.2003
"Welt am Sonntag" brennt Kindersicherung durch
Springer-Blatt denunziert schwulen Bremer SPD-Politiker als potentiellen "Kinderschänder" / whk ruft wegen Vorverurteilung Presserat an
In der Ausgabe vom 19. Oktober veröffentlichte die "Welt am Sonntag" unter dem Titel "Verdacht gegen Engelmann erdrückend" einen Artikel über den Bremer SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Michael Engelmann, gegen den derzeit wegen mutmaßlichen Handels mit Kinderpornographie ermittelt wird. Dabei erweckt das Blatt den Eindruck, der schwule Politiker könne sich auch an minderjährigen Jungen vergangen haben. Hierzu erklärt die AG Schwulenpolitik des whk:
Gespickt mit Mutmaßungen schmierigster Sorte präsentierte die "Welt am Sonntag" (WamS) in ihrer Ausgabe vom 19. Oktober einen in seiner Tendenz klar vorverurteilenden Artikel über den Bremer Bürgerschaftsabgeordneten Michael Engelmann, gegen den derzeit wegen des Verdachts des Handels mit Kinderpornographie ermittelt wird.
So schreibt das Blatt unter Berufung auf "gut unterrichtete Kreise", Engelmann sei "in diversen Chat-Rooms für Homosexuelle ... mit Foto und seinen persönlichen Vorlieben" aufgetaucht. Dort habe der SPD-Politiker angegeben, "auf der Suche nach Männern zwischen 16 und 30 zu sein. Ein Kenner der Schwulenszene betonte, dies sei ein deutliches Signal, dass Engelmann auch Kontakt zu unter 16-Jährigen gesucht habe."
Für "Kenner der Schwulenszene" abseits von Polizei- und Landeskriminalbeamten sind solche Aussagen gefährlicher Unfug. Vage Alterseingrenzungen wie "zwischen 16 und 30" entsprechen in schwulen Chatforen den üblichen Gepflogenheiten bei der Partnersuche und sind als Geste der Höflichkeit zu verstehen. Stellten sie einen Straftatbestand dar, müßte die Staatsanwaltschaft unverzüglich Ermittlungen gegen die allermeisten schwulen Chat-Teilnehmer dieses Landes aufnehmen. Vermutlich ist der WamS entgangen, daß die Teilnahme an schwulen Chatforen auch nach der kürzlichen Verschärfung des Sexualstrafrechts noch straffrei ist.
Daß die WamS bereits vor Abschluß der Ermittlungen oder eines ordentlichen Gerichtverfahrens "deutliche Signale" aussendet, es könnte sich bei dem offen schwulen Engelmann möglicherweise zudem um einen Kinderficker handeln, ist ein Skandal. Derzeit ist für die Staatsanwaltschaft nicht einmal erwiesen, ob Engelmann tatsächlich mit Kinderpornographie gehandelt hat, oder ob es sich - wie andere Medien berichteten - um eine Erpressung handelt. Auch im Fall Engelmann hat bis zum Richterspruch die Unschuldsvermutung zu gelten.
Der WamS-Artikel ist beredtes Beispiel dafür, wie eine nichtstrafbare private Angabe eines schwulen Mannes in einem Internetforum von der Presse in eine üble sexuelle Denunziation gegen Schwule an sich umgemünzt wird. Erst jüngst belegte eine in den USA durchgeführte Studie, daß Massenmedien derzeit offenbar wieder eine verstärkte Kontextuisierung, wenn nicht Gleichsetzung von "Kinderschändern", Pädophilen und Homosexuellen vornehmen. Dies paßt allerdings zu der vom whk insbesondere seit Einführung der "Homo-Ehe" mit großer Sorge verfolgten Wiederzunahme staatlicher Repression gegen Orte nicht-"ehelicher" schwuler Sexualität.
Zuvor präsentierten bereits Qualitätszeitungen wie die "Frankfurter Rundschau" und die ARD-Tagesschau im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen "pädophil-homosexuelle" Männer fast ausschließlich frei verkäufliches "kinderpornographisches Beweismaterial" der Polizei: Bücher zum Coming out schwuler Jugendlicher und Aktbildbände renommierter Kunstverlage. Pikanterweise war darunter sogar ein Buch, in dem der über jeden Verdacht der "Kinderschänderei" erhabene, an der Verschärfung des Sexualstrafrechts maßgeblich beteiligte Rechtsexperte der Bündnisgrünen im Bundestag, Volker Beck, die "Entkriminalisierung der Pädophilie" forderte, "weil sie im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen aufrecht erhalten wird".
Wie die genannten Medien läßt nun auch die "Welt am Sonntag" (WamS) in ihrer Berichterstattung jeglichen journalistischen Anstand und jede Distanz zu den ermittelnden Behörden vermissen. Das whk nimmt den WamS-Artikel zum Anlaß, beim Deutschen Presserat wegen Verstoßes gegen Ziffer 13 des Presskodex (Vorverurteilung) Beschwerde einzulegen.
Die am Freitag erscheinende Ausgabe 28 der whk-Zeitschrift "Gigi" beschäftigt sich im Editorial unter dem Titel "Schutzhaft" mit den aktuellen Entwicklungen rund um die mediale "Kinderschänder"-Hysterie.
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