whk0398/9. 11. 1998
Presseerklärung
Am 29. November wird der Rat der Gemeinde Quellendorf in Sachsen-Anhalt über den Verbleib von Michaela Lindner im Bürgermeisteramt abstimmen. Als Norbert Lindner war die heute 40jährige 1995 mit 60 Prozent der Stimmen gewählt worden. Im Mai 1998 setzte sie den achtköpfigen Gemeinderat davon in Kenntnis, daß sie transsexuell und im Begriff sei, fortan als Frau weiterzuleben.
Dies löste eine Welle von Haß unter den 1.048 QuellendorferInnen aus, die sich in anonymen Briefen, Anrufen und Beschimpfungen äußerte. Systematisch wurde Frau Lindner auch in ihrer politischen Funktion und Kompetenz demontiert. "Unser Bürgermeister hat seine Autorität und Würde verloren", legitimierte der das Abwahlverfahren unterstützende Vizebürgermeister Uwe Pforte gegenüber dpa die Intoleranz eines Großteils der QuellendorferInnen. Daß das vom Gemeinderat mit sechs gegen zwei Stimmen ohne Begründung beschlossene Verfahren nichts mit der Transsexualität der Bürgermeisterin zu tun habe, wie Pforte erklärte, ist mehr als unglaubwürdig angesichts des Gebarens der Einwohnerschaft des Dorfes gegenüber den Medien.
Für das whk erweist sich am "Fall" Michaela Lindner, daß die allerorten gepriesene "gestiegene Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten" ein kühner Traum naiver Bürgerrechtler ist: Wenn es diesseits von Fernsehbildschirmen und sog. Meinungsumfragen konkret wird, hört der Spaß auf und bricht sich die dumpfe Volksseele ungehemmt Bahn und die Politik setzt dem nichts Relevantes entgegen.
Das wissenschaftlich-humanitäre komitee, das in sein Programm gerade aus diesem Grunde die Emanzipation von der normativen Zweigeschlechtlichkeit aufgenommen hat, versichert Michaela Lindner seiner vorbehaltlosen Unterstützung. Es fordert den Gemeinderat von Quellendorf auf, den Abwahlantrag gegen die amtierende Bürgermeisterin umgehend zurückzuziehen. Das whk verweist auf die Existenz eines Antidiskriminierungsgesetzes in Sachsen-Anhalt sowie auf das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, die die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts unmißverständlich ausschließen.
Das whk fordert aus gegebenem Anlaß die Bundesregierung auf, endlich das Transsexuellengesetz zu reformieren. Das whk empfindet es als absurd und inhuman, daß die bloße Änderung der Geschlechtsidentität auch den juristischen Zwang begründet, sich von der bisherigen Ehepartnerin scheiden zu lassen und sich einer operativen Änderung der äußeren Geschlechtsmerkmale zu unterziehen, die die Herstellung der dauerhaften Fortpflanzungsunfähigkeit einschließt. Das alles hat weder mit Freiheit noch mit Selbstbestimmungsrecht irgend etwas gemein, sondern entspringt einem antiquierten, sexistischen Bild von Geschlechterhierarchie und Rollenverhalten.
Das whk hat eine Unterstützungskampagne für Michaela Lindner gestartet und hofft, dem Gemeinderat von Quellendorf bis zum 29. November 1.048 Unterschriften gegen ihre Abwahl übergeben zu können.
Jürgen Aaron Nehm