whk3605/30.11.2005
Welt-AIDS-Tag 2005: Schwule abermals Sündenböcke für verfehlte Präventionspolitik
ARD-Politmagazin behauptet, Homoszene nehme AIDS-Tod "geradezu lustvoll in Kauf" / whk: Präventionsarbeit in den Hauptbetroffenengruppen langfristig absichern
Im Vorfeld des morgigen Welt-AIDS-Tages berichteten Medien von einem Anstieg der HIV-Neuinfektionen vor allem schwulen und bisexuellen Männern. Hierzu erklärt das wissenschaftlich-humanitäre komitee:
Mit Unverständnis nimmt das wissenschaftlich-humanitäre komitee (whk) die Berichterstattung über den deutlichen Anstieg von HIV-Infektionen unter schwulen und bisexuellen Männern zur Kenntnis. Nach Ansicht des whk ist es nicht hinnehmbar, daß homo- und bisexuelle Männer seit Monaten wieder verstärkt zu Sündenböcken in Sachen HIV und AIDS gestempelt werden. Als besorgniserregend erscheint dem whk, daß Homosexuelle als Hauptbetroffenengruppe anders als in den achtziger Jahren nunmehr nicht etwa in Boulevardmagazinen wie Der Spiegel oder Revolverblättern wie BILD am Pranger stehen, sondern derzeit fast ausschließlich im staatlich kontrollierten öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
So unterstellte das ARD-Politmagazin "Kontraste" in der Sendung vom 20. Oktober 2005 der Schwulenszene eine "neue Sorglosigkeit" in Sachen AIDS und behauptete ohne irgendeinen handfesten Beleg, Schwule setzten sich "ganz bewußt der Ansteckungsgefahr aus", da Sex ohne Kondom (genannt Barebacking) ihnen "einen ganz besonderen Kick" gebe. Eine solche Homosexuelle kollektiv verurteilende Darstellung ist eine Unverschämtheit. Das TV-Magazin bezichtigt "gewisse Kreise der Szene" nicht nur der "Verantwortungslosigkeit", sondern rückt diese insgesamt in den Kontext sadistischen Lustmords. So heißt es in dem Beitrag von Ulrich Kraetzer, in der Homoszene werde "der eigene Tod und der der Freunde (!) geradezu lustvoll in Kauf genommen". Der Beitrag ist mit Bildern der Berliner Homokneipe Armstrong unterlegt, die über einen Darkroom verfügt.
Solche Spaltungs- und Kriminalisierungsversuche innerhalb der Hauptbetroffenengruppen laufen absolut jeder Präventionsvernunft zuwider. "Wozu 80 werden, wenn man mit 40 genauso leiden kann?", fragte kürzlich ein 20-jähriger HIV-Negativer in einem Internet-Portal für sogenannte Barebacker angesichts der durch die Mehrheit der Bundestagsparteien jahrelang betriebenen sozialrechtlichen Entsolidarisierung in Form der Individualisierung von Lebensrisiken. Mit anderen Worten: Barebacking, also der bewußte und einvernehmliche Verzicht auf den Schutz vor übertragbaren Krankheiten beim Geschlechtsverkehr (z.B. kein Kondomgebrauch) als nur eine Ausdrucksform gestiegener Risikobereitschaft, zählt exakt zu jenem zynischen, aber mehrheitsfähigen Mehr an Eigenverantwortung. Statt ein legales, durch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs [u. a. BGHSt 32,262] gedecktes Sexualverhalten als souveräne Entscheidung mündiger Bürger zu akzeptieren und damit seriös umzugehen, kommt es in Politik, Gesellschaft und Medien zu irrationalen, grundgesetzwidrigen Reflexen mit dem durchschaubaren Ziel der Kriminalisierung vor allem Homosexueller.Derartige Disziplinierungsversuche lehnt das whk strikt ab. Es verwahrt sich gegen alle Versuche, die von HIV und AIDS Betroffenen kollektiv zu Mördern mit niederen Motiven zu stilisieren. Statt mit Blick auf die Einschaltquote zu suggerieren, Schwule nähmen für sexuellen Lustgewinn ihren eigenen und sogar den Tod von Freunden in Kauf, täte das öffentlich-rechtlichen Fernsehen gut daran, öfter mal einen Aufklärungspot der AIDS-Hilfen vor ihre Politikmagazine zu schalten. Damit kann gewiß mehr Unheil verhütet werden, als diverse einschlägige ARD-Berichte in der Vergangenheit angerichtet haben. Das whk fordert die öffentlich-rechtlichen Anstalten auf, sofort zur kostenlosen Ausstrahlung von Präventionsspots zurückzukehren, mit denen auf einfache Weise gut 90 Prozent der Bevölkerung erreicht werden können. Keinem anderen Massenmedium kommt eine größere Verantwortung bei der flächendeckenden Verbreitung gesundheitspolitischer Botschaften zu. Vorbehaltlos schließt sich das whk der Resolution des Bundespositiventreffens vom 10. November an, die von den Medien "eine seriöse Recherche und Darstellung anstelle ausgrenzender Schuldzuweisungen, verzerrender Zahlenspiele und klischeebehafteter Bilder" fordert. Auch HIV-Infizierte und AIDS-Kranke haben ein Recht auf selbstbestimmte Sexualität.
Auch die neue Bundesregierung muß auf den Anstieg der Infektionszahlen umgehend reagieren. Es genügt nicht, das Ziel einer stärkeren AIDS-Prävention im Koalitionsvertrag zu verankern, ohne gleichzeitig konkrete Konzepte vorzulegen und finanzielle Zuschüsse bereitzustellen. Die Folgen des jahrelangen Zusammenstreichens finanzieller Mittel bei AIDS-Hilfen und Betroffenenprojekten sind inzwischen unübersehbar. Viele erfolgreiche Ansätze wurden dadurch wieder zunichte gemacht - auf Kosten von Menschenleben. Zu den Folgen dieses sozialpolitischen Barebackings berichtete der Kölner Stadtanzeiger am 29. November. Köln habe inzwischen bundesweit einen "traurigen Spitzenplatz" bei der statistischen Prognoseentwicklung der HIV-Neuinfektionen erreicht. Noch in den 90er Jahren sei Köln dank erfolgreicher Präventionsarbeit nach Bremen die Stadt mit der günstigsten Prognose gewesen. Nach Auskunft der Kölner AIDS-Hilfe hat sich die Zahl der Neuinfektionen allein vom vergangenen auf dieses Jahr nahezu verdoppelt. Etwa 75 Prozent der Betroffenen seien Männer, die sich beim Sex mit einem anderen Mann infiziert hätten. Es wird daher höchste Zeit, daß Bund und Land ihre Verantwortung gegenüber den finanzknappen Kommunen wahrnehmen. Dazu gehören eine umfassendere und bessere Sexualaufklärung an Schulen, die zielgruppenspezifische Unterstützung von schwulen Emanzipations- und Coming-out-Gruppen sowie eine grundsätzliche Gebührenfreiheit von HIV-Tests sowie von Medikamenten zur Therapie von HIV und AIDS.
Außerordentlich kritisch beurteilt das whk eine Pressemitteilung der CDU-Homogruppe "Lesben und Schwule in der Union" (LSU) zum Welt-AIDS-Tag, worin es heißt, Deutschland verfüge über ein "gut ausgebautes HIV-und AIDS-Hilfe-System", in welches man "nicht unbedingt mehr Geld" hineinpumpen müsse. Angesichts der jahrelangen Streichorgien in der AIDS-Prävention und der von Patienten zu leistenden Kostenbeteiligung im Gesundheitswesen sind die kenntnisfreien Verlautbarungen der LSU ein Schlag ins Gesicht aller von HIV und AIDS Betroffenen. Mit dem Gefasel von angeblich gestiegener "Risikobereitschaft" und gesunkenem "Schutzverhalten" bei schwulen Männern macht sich die LSU zum Kumpanen tendenziöser und darüber hinaus im Kern homophober Medienberichte wie in "Kontraste".
Für das whk ist es vollkommen inakzeptabel, wie eine Gruppierung, die sich der homosexuellen Szene zurechnet, ernsthaft die in den 80er Jahren vor allem vom Magazin Der Spiegel verbreitete Mär aufgreifen kann, nach der schwule Männer der "Motor der Seuche" AIDS seien. Es ist ein verheerendes Signal, wie arglos und dumm von der Definition riskanten Verhaltens zurückgekehrt wird zur undemokratischen Definition sogenannter Risikogruppen. In dieses Weltbild paßt auch die dem whk ausländerfeindlich anmutende LSU-Sicht auf die aus afrikanischen HIV-"Hochrisikogebieten" stammenden und in Deutschland lebenden Migranten. Nach Ansicht des whk sind Kinshasa und Maputo in Sachen AIDS keine wesentlich "gefährlicheren" Städte als Köln, Berlin oder München. Nicht geographische Koordinaten sind bei der Prävention entscheidend, sondern der politische Wille, Menschen mit Aufklärung zu erreichen, wo immer sie auch leben. Statt Migranten und ihren Wunsch nach Sexualität zum Sicherheitsrisiko zu halluzinieren, täte die christ-soziale Homoabteilung gut daran, sich mit dem in Afrika verheerend auswirkenden Kondomverbot des Heiligen Stuhls und seiner Behauptung, die "pansexuelle Kultur" sei der Grund für die rasante Ausbreitung von AIDS sowie mit dem Zusammenhang von Neokolonialismus, Armut und Infektionsrisiko auseinanderzusetzen.
Für Rückfragen: 0180/4444945 (Dirk Ruder)