whk3505/22.11.2005
Sex unter Merkel wird härter
Koalitionsvertrag verkauft bäuerliche Lebens- und Abhängigkeitsverhältnisse als "moderne" Familienpolitik / whk: Schwarz-rote Pläne unterstreichen grundsätzliche Abkehr von emanzipatorischen Lebensweisen
Am heutigen Dienstag nimmt in Berlin die Regierungskoalition aus SPD und CDU/CSU unter Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Arbeit auf. Hierzu erklärt das whk:
Die Wahl von Angela Merkel zur ersten deutschen Bundeskanzlerin markiert einen rabenschwarzen Tag für alle gegen Patriarchat und Konservatismus gerichteten emanzipatorischen Bestrebungen. Menschen, die ihr soziales und ihr Liebesleben nicht nach dem angeblich gottgewollten Muster der monogamen heterosexuellen Zweierbeziehung organisieren, müssen unter der schwarz-roten Koalitionsregierung mit verschärfter sozialer Kontrolle und staatlichem Druck rechnen. Dies geht nicht zuletzt aus dem vor wenigen Tagen von CDU/CSU und SPD vereinbarten Koalitionsvertrag "Gemeinsam für Deutschland - mit Mut und Menschlichkeit" hervor, in dem die künftigen Regierungsparteien von jeglichem Realitätssinn unbefleckten Vorstellungen von einer angeblich "modernen" Familienpolitik geradezu papsttauglich festgeschrieben haben.So erlebt im Koalitionsvertrag bereits auf Seite 11 die Ansicht, daß die Mutter-Vater-Kind-Familie die Keimzelle des Staates sei, eine unerwartete Auferstehung: "Familien sind Grundlage eines freiheitlichen Gemeinwesens" heißt es dort. Auch die von der neuen Bundesregierung beabsichtigte Förderung von beschönigend als "Mehrgenerationenfamilien" bezeichneten Formen des Zusammenlebens läßt angesichts der forcierten Abwälzung eigentlich staatlicher Leistungen auf das Portemonnaie anderer Familienmitglieder aufhorchen. Statt Patchworkfamilien und andere Formen des Zusammenlebens mit der heterosexuellen Kleinfamilie vorbehaltlos gleichzustellen und jedem einzelnen Menschen eine individuelle Grundsicherung unabhängig von seinen Verwandtschaftsverhältnissen zuzugestehen, schwebt der Koalition offenbar eine flächendeckende Rückkehr zur bäuerlichen Lebensweise vor, bei der Großeltern, Eltern und Enkel bis zum bitteren Ende in "Mehrgenerationenfamilien" aufeinanderhockten und bis zum Lebensende füreinander aufzukommen hatten, weil kein demokratisches Gemeinwesen sich um sie scherte. Im Koalitionsvertrag klingt das unverdächtig so: "Wir wollen ihre Leistungsfähigkeit und Eigenverantwortung stärken, angefangen von traditionellen Familien bis hin zu Patchwork-, Stief- und Einelternfamilien. Familie umfaßt alle Generationen. Die Mehrgenerationenfamilie in ihrer modernen Form bietet die Chance, Verantwortung füreinander zu übernehmen ... Unabhängig davon verdienen alle Lebensmodelle den gleichen Respekt." Mehr als einen unverbindlichen Respekt haben homosexuelle Lebensgemeinschaften demnach in den nächsten Jahren aus Berlin nicht zu erwarten.
Als Erfolg verbuchen darf indes der staatlich finanzierte Lesben und Schwulenverband LSVD, daß die Bundesregierung jetzt mit dem LSVD-Motto "Liebe verdient Respekt!" kämpferisches Nichtstun in der Lebensweisenpolitik ummäntelt. Denn, so heißt es in der Vereinbarung von SPD und CDU/CSU: "Politik hat den Menschen nicht vorzuschreiben, wie sie leben sollen, sondern Rahmenbedingungen zu schaffen ... Gleichstellungspolitik muß sich an den Erwartungen und Lebensentwürfen von Männern und Frauen in allen Lebensbereichen orientieren." Dazu beitragen soll wohl, daß die Definition eheähnlicher Partnerschaften beim ALG-II-Leistungsbezug geändert und die Beweislast umgekehrt werden soll. Demnach müssen künftig hetero- wie homosexuelle Hartz-IV-Empfänger ihrerseits den Beweis erbringen, daß sie in keiner Partnerschaft leben, wenn das Amt beispielsweise bei einer nicht angekündigten Wohnungskontrolle etwa eine zweite Zahnbürste gefunden hat. Staat rein in unsere Betten, scheint das erklärte Motto von Schwarz-Rot.
Dazu paßt, daß es unter 25-Jährigen ohne Job künftig nicht mehr erlaubt sein soll, mit Hilfe staatlicher Unterstützung das Elternhaus zu verlassen. Wie es auf Seite 27 der Koalitionsvereinbarung heißt, soll damit "verhindert" werden, "daß Bedarfsgemeinschaften nur zu dem Zweck gegründet werden, um höhere Arbeitslosengeld-II-Ansprüche geltend zu machen". Damit rückt die derzeitige Bundesregierung den verständlichen Wunsch junger Menschen, ein vom Elternhaus unabhängiges Leben in einer eigenen Wohnung zu führen, perfide in die Nähe eines Leistungsbetrugs. Gerade für junge Homosexuelle ist es jedoch beispielsweise in der schwierigen Phase des Coming outs enorm wichtig, von der biologischen Familie unabhängig erste Lebens- und Liebeserfahrungen sammeln zu können. Wer jung ist und keine Arbeit hat, wird dem Elternhaus in Sachen selbstbestimme Sexualität künftig wohl nur noch durch freiwilligen Bundeswehreinsatz am Hindukusch entkommen, zumal die Arbeitsagenturen durch Einführung eines im Koalitionsvertrag euphemistisch als "Kombi-Lohn-Modell" gepriesenen Zwangs-Arbeitsdienstes die obskure Möglichkeit offensteht, Leistungsempfänger zur Arbeit im Sexgewerbe zu verpflichten.
Überhaupt scheint die Regierung der Bevölkerung eine auch - und vor allem - vor Eingriffen des Staates geschützte Sexualität nicht mehr ohne weiteres zugestehen zu wollen. So taucht der Begriff Sexualität im Koalitionsvertrag allenfalls als Adjektiv in Verbindung mit aufschlußreichen Substantiven wie "Sicherheitsverwahrung", "Strafrecht" und "Menschenhandel" auf. Sexualität ist Schwarz-Rot offenbar nur im Zusammenhang mit Kriminalität denkbar. Kein Zweifel: Der Sex unter Bundeskanzlerin Angela Merkel wird zweifellos härter werden. Besorgniserregend ist, daß die Bundesregierung nach eigenen Angaben plant, das nach diversen Verschärfungen in den letzten Jahren angeblich "unübersichtlich" gewordene Sexualstrafrecht nunmehr "grundlegend" zu "reformieren". Die juristische Beseitigung von "Wertungswidersprüchen und terminologischen Unklarheiten" wird angesichts zunehmender Repression im Strafrecht wohl kaum eine Liberalisierung hervorbringen.
Im Bereich der von Rot-Grün halbherzig legalisierten Prostitution plant Schwarz-Rot, nach vermutlich schwedischem Vorbild die "Strafbarkeit der Freier von Zwangsprostituierten" zu "regeln". Damit würde Prostitution erneut illegal, nur, daß statt der Prostituierten künftig die Freier am Pranger stehen. Als Begründung dafür muß ausgerechnet die Bekämpfung von "Gewalt gegen Frauen" herhalten, die für SPD und CDU/CSU demnach vor allem im Rotlichtmilieu stattfindet und nicht etwa in heterosexuellen Kleinfamilien. Unangetastet bleibt hingegen die bürgerliche Ehe als staatlich gefördertes Prostitutionsverhältnis.
Für Freude bei ohnehin am Rande der Armut lebenden HIV-Infizierten und AIDS-Kranken dürfte auch die Erkenntnis der Bundesregierung sorgen, daß "das Gesundheitswesen ... eine dynamische Wirtschaftsbranche mit Innovationskraft und erheblicher ökonomischer Bedeutung für den Standort Deutschland" darstelle (S. 85). Zwar heißt es einerseits, "angesichts des weltweit dramatischen Anstiegs der HIV-Neuinfektionen und AIDS-Erkrankungen sowie der auch in Deutschland deutlichen Zunahme an HIV-Infektionen müssen die Bekämpfungsmaßnahmen und Aufklärungskampagnen effektiv auf Veränderungen im Schutzverhalten der Bevölkerung und internationale Entwicklungen reagieren". Woher das Geld für die Präventionsarbeit kommen soll, weiß die Bundesregierung wohl auch schon: "Die Standortbedingungen und die Innovationsmöglichkeiten der Pharmaindustrie in Deutschland werden gestärkt." Die Vorstellung, daß an der Verbreitung von AIDS mitschuldige Pharmamultis wie BAYER demnächst ums Überleben kämpfende AIDS-Hilfen sponsern, scheint demnach gar nicht so absurd.
Kritik übt das whk unterdessen an jenen lesbisch-schwulen Verbänden, die für ihre Presseerklärungen zum knapp 200-seitigen Koalitionsvertrag offenbar nur nach den zwei von ihnen noch halbwegs beherrschten Politvokabeln Antidiskriminierungsgesetz und Registrierte Partnerschaft gesucht haben. Es ist bestürzend, daß die Homoszene den konservativen Geist der Koalitionsvereinbarung bislang nicht einmal ansatzweise erfaßt und von deren katastrophalen gesellschaftlichen Folgen scheinbar keine Vorstellung hat.
Für Rückfragen: 0180/4444945 (Dirk Ruder)