whk1305/30.03.2005
Machtwechsel in Kiel: Vorbildliche Antidiskriminierungspolitik vor dem Ende?
whk: Wegweisendes Modell setzt auf lesbisch-schwule Emanzipation statt auf Gesetze / Kieler Homostudie sieht "Defizite auf der Bundesebene" in der Antidiskriminierungspolitik
Nach der gescheiterten Regierungsbildung von SPD, Grünen und SSW in Schleswig-Holstein verhandeln nunmehr CDU und SPD über eine Große Koalition in Kiel. Hierzu erklärt das wissenschaftlich-humanitäre komitee (whk):
Nach dem Machtwechsel im Norden ist die Zukunft des bundesweit wegweisenden Kieler Antidiskriminierungsmodells ungewiß. Anders als die Bundesregierung, die ihre Antidiskriminierungspolitik mit dem Erlaß eines Gesetzes weitgehend erledigen will, setzt die schleswig-holsteinische Koalition aus SPD und Grünen seit Jahren auf aktive, differenzierte und zudem wissenschaftlich begleitete Antidiskriminierungsmaßnahmen, die etwa die dauerhafte finanzielle Unterstützung von Lesben- und Schwulengruppen ausdrücklich einschließen. Damit hat die Landesregierung unterstrichen, daß die Förderung von Emanzipation und lesbisch-schwulem Selbstbewußtsein auf lange Sicht das wirkungsvollere Mittel gegen Diskriminierungserfahrungen im Alltag ist.
Mehr noch: Die Ergebnisse einer im Auftrag des Landesfamilienministeriums von der Universität Kiel durchgeführten Studie "Gleichgeschlechtliche Lebensweisen in Schleswig-Holstein 2004" stellen eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung dar. So bescheinigen die Experten des pädagogischen Instituts der Kieler Universität derzeitiger Antidiskriminierungspolitik entscheidende "Defizite auf der Bundesebene". Anders als die zunehmend auf juristisch-paternalistische Maßnahmen abhebende Bundesregierung, setzt die ein ADG grundsätzlich nicht ablehnende Landesregierung in Schleswig-Holstein auf Emanzipation und den mündigen Bürger. So nennt die Studie an zentraler Stelle die "positive Unterstützung für Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind" als "unverzichtbare" Maßnahme zur " mittel- und langfristigen" Absicherung von Antidiskriminierungsbestrebungen - und nicht etwa die bloße Verabschiedung von Gesetzen wie in Berlin.
"Auffallend" sei nach Ansicht der Wissenschaftler die "Zurückhaltung" der Bundesregierung "bei der finanziellen Förderung von positiven Maßnahmen gegen Diskriminierung". Das whk weist nochmals darauf hin, daß auch in dem inzwischen deutlich zusammengestrichenen ADG-Entwurf der Bundesregierung eine dauerhafte finanzielle Unterstützung beispielsweise von lesbisch-schwulen Emanzipationsprojekten, etwa AIDS-Hilfen oder Coming-out-Gruppen, an keiner Stelle festgeschrieben ist. Gerade dies wäre jedoch dringend notwendig, zumal die Etats in diesem Bereich seit Jahren auf allen Ebenen zusammengestrichen werden.
Zudem kennzeichnen die Kieler Experten die Politik der Bundesregierung indirekt als konzeptionsloses Gewurstel. Als Fazit aus den Kieler Erfahrungen warnen sie beispielsweise vor einer "fehlenden Abstimmung von Vorhaben in verschiedenen Diskriminierungsfeldern", die "auch zu einer Konkurrenz untereinander" beitrage. Weiterhin verweisen die Wissenschaftler ausdrücklich auf die sozialen Ursachen von Diskriminierung: "Die Wahrscheinlichkeit, Diskriminierung zu erfahren", steige demzufolge "mit dem Mangel an materiellem, sozialem und kulturellem Kapital". Eine sinnvolle und erfolgreiche Politik in diesem Bereich muß demnach darauf hinarbeiten, materielle Benachteiligung auszugleichen und den Betroffenen uneingeschränkten Zugang zu Bildung und Kultur zu ermöglichen. Entsprechende Initiativen kann man der Bundesregierung momentan beim besten Willen nicht nachsagen.
Angesichts der derzeitigen ADG-Debatte auf Bundesebene dürfte auch interessant sein, daß die Studie nicht nur, wie erstmals schon 1997, jene Diskriminierungsfelder untersuchte, in denen es "einen hohen Handlungsbedarf" gebe, sondern ihr Augenmerk auch auf Bereiche wie Kirche und Justizvollzug erweiterte. Damit gehen die Kieler Antidiskriminierungsmaßnahmen erneut über die Absichten der Bundesregierung hinaus, indem sie beispielsweise den Abbau von Diskriminierung in den Bereichen forcieren, die auch weiterhin einem Tendenzschutz unterliegen sollen. Der "Justizvollzug als Institution" wird "als schwierigstes Arbeitsfeld im Hinblick auf einen Abbau von Diskriminierung" eingeschätzt.
Auf Unverständnis stößt beim whk, daß die Landesregierung Schleswig-Holstein die Ergebnisse der Untersuchung offenbar aus der Debatte um das ADG vollständig heraushalten will. Obwohl die Studienergebnisse bereits Ende Juli 2004 vorlagen, veröffentlichte das Familienministerium dazu erst vier Monate später im November eine entsprechende Presseerklärung, in der es nebulös heißt, die Erhebung zeige "ein differenziertes Bild mit Licht und Schatten". Das whk fordert das Kieler Ministerium dringend auf, die Studie schnellstmöglich vollständig zugänglich zu machen, da sie einen wichtigen Beitrag in der Debatte um Sinn und Zweck eines in Berlin zu verabschiedenden Antidiskriminierungsgesetzes darstellt.
Statt wie das Kaninchen vor der Schlange nach dem Machtwechsel in Kiel auf mögliche Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zu starren, die ein ADG begünstigen oder verhindern könnten, fordert das whk Verbände und Aktivisten der Homoszene auf, endlich eine Diskussion darüber zu beginnen, welche Art von Diskriminierungsmaßnahmen sie wirklich für sinnvoll hält. Ein ADG, das im Zivilrecht Diskriminierung aufgrund von "sexueller Identität" ahnden soll, lehnt das whk als anti-emanzipatorisch und kontraproduktiv ab, zumal der vorliegende Entwurf immer stärker den Charakter eines Diskriminierungsgesetzes annimmt, das lediglich definiert, wer wen unter welchen Umständen und mit welcher Begründung benachteiligen darf und wer nicht.
Rückfragen: 0162-6673642 (Dirk Ruder)