Dokumentation
Offener Brief des whk Ruhr an André Zwiers, SVD-Ortsverein Dortmund
SVD Dortmund
Braunschweiger Str. 22
44145 Dortmund
Dortmund, 12. Juli 1999
Offener BriefLieber André,
heute möchten wir Dir auf Deinen Offenen Brief vom 21. Juni 1999 antworten.
Offensichtlich haben wir unterschiedliche Begriffsinhalte, was zunächst klargestellt werden sollte. "Gesellschaftliche Verhältnisse insgesamt ändern" ist für uns nicht mit "Integrationsleistung" gleichzusetzen, wie Du es aus dem LSVD-Programm ableitest. Indem ich weitere oder andere Gruppen in den gesellschaftlichen Funktionsprozeß hole (hier Produktionsverhältnisse in Form von Ehe und Familie, Recht), baue ich diese Verhältnisse weiter aus, festige ich sie, stärke ich herrschende Machtverhältnisse. Das kapitalistische System braucht für sein Funktionieren eine "Handvoll" williger Schwuler und Lesben. Ein Stückchen Freiraum im Ehebereich, und sie werden uns über die Politik wieder weismachen, doch aktiv etwas gegen Diskriminierung getan zu haben. Die homosexuelle "Gemeinschaft" hat sich sodann in den gemütlichen Familiensessel zurückzulehnen. Wir sind wieder im Privaten. Dabei geht es um BürgerInnenrechte für Manager und andere Zahlungskräftige. Sie können am Kommerz teilhaben. Nicht zuletzt vertreten Organisationen wie die "Schwulen Manager" die Forderung nach der Homo-Ehe. Denn sie wollen endlich voll mit zum bürgerlichen Leben dazugehören. Was macht es da schon aus, daß viele andere von uns keinen Job haben, letztlich zur Versorgung von PartnerInnen herangezogen werden, den Reproduktionsbereich abdecken. Wenn wir von Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse sprechen, so meinen wir die Schaffung anderer Verhältnisse (hier Produktionsverhältnisse, die eine gleichberechtigte Teilhabe am Verteilungsprozeß des erbrachten Reichtums ermöglichen). Eine Alternative ist die gesellschaftliche Organisation nach den Bedürfnissen der Menschen und nicht nach Profitinteressen, also die rechtliche Gleichstellung aller Menschen.
Soweit kurz, um die unterschiedliche Ebene aus dem Bereich der Sprache deutlich zu machen.
Gleichzeitig implizierst Du aus unserer Ablehnung der Forderung nach Homo-Ehe, wir wären gegen die Zweisamkeit von Schwulen oder von Lesben. Absolut nicht, auch wenn wir einem Leben zu dritt oder mit noch mehreren durchaus was abgewinnen könnten. Ehe für lesbische und schwule Paare, Homoehe, aber bedeutet mit dem gegenwärtigen Rechtssystem wieder nur eine Ausdehnung von Privilegien auf eine weitere Randgruppe unserer Gesellschaft, die sich die Herrschenden damit ins Boot holen (war das nicht längst voll?).
Die Ehe in ihrer jetzigen Ausgestaltung privilegiert durch Ehegattensplitting, Mitversicherung usw. Verhältnisse, die die Abhängigkeit der Frauen von Männern unterstützen und fördern. Manch einen ärgert's, manche freut's immer mehr Menschen entscheiden sich für ein Single-Dasein, die Zahl der Alleinerziehenden wächst, viele heterosexuelle Paare bevorzugen eine nichteheliche Lebensgemeinschaft und wie der "Andrang" mit dem Modell der Hamburger Homo-Partnerschaft zeigt verzichten auch die Mehrheit der Lesben und die der Schwulen auf den Gang zum Traualtar. Auch immer mehr Frauen und Männer entscheiden sich, in Wohngemeinschaften zu leben statt in einer Zweierbeziehung.
Diese Vielfalt der Lebensweisen ist ein Zeichen einer offeneren und bunteren Gesellschaft. So weit, so gut. Aber die Singles, besten FreundInnen, homosexuellen Liebesbeziehungen, Wohngemeinschaften und sozialen Familien mit Kindern werden im Recht weitgehend ignoriert. Nur die Ehe wird als menschliche Bindung rechtlich anerkannt, positiv bewertet und materiell gefördert.
Nun ließe sich zwar behaupten, die nichtehelichen Wohn- und Lebensgemeinschaften haben sich bewußt entschieden, nicht zu heiraten. Jede und jeder hätte doch schließlich die Wahl.
Aber - das Problem ist die Privilegierung der Ehe. Die Behauptung einer Wahlfreiheit zwischen der Ehe und anderen möglichen Formen des Zusammenlebens wird zum Witz, wenn die Ehe mit diversen Vorteilen lockt, während die anderen durch Komplikationen und Diskriminierungen abschrecken.
Einige Beispiele: Mehrere Frauen mit Wohnberechtigungsscheinen können keine gemeinsame Sozialwohnung beziehen. Auf der Intensivstation oder bei der Polizei erhalten nur die engsten Familienangehörigen Auskunft. Trotz Testament bekommt der Partner eines verstorbenen Schwulen laut Erbschaftsbesteuerung nur einen Bruchteil dessen, was aus einer Ehe möglich wäre. Eine von Abschiebung bedrohte Frau kann aus einer Beziehung zu einer deutschen Frau kein Aufenthaltsrecht ableiten, wie es bei der Heirat eines deutschen Mannes möglich wäre.
Nun leitet ihr als LSVD oder noch Dortmunder SVD daraus ab, daß es doch toll wäre, wenn genau dieser staatliche Umgang mit Verheirateten auch auf nichtverheiratete besonders auf lesbische und auf schwule Paare ausgedehnt werden würde. Endlich auch ein Stückchen von dem Ehekuchen abbekommen und die ehelichen Erleichterungen genießen!
Ja, natürlich. "Mitgehangen Mitgefangen". Die Zwangsgemeinschaft Ehe schreibt ja auch eine gegenseitige Unterhaltsverpflichtung fest. Verheiratete erhalten nur dann Arbeitslosen- und Sozialhilfe, wenn auch ihr Partner oder ihre Partnerin unter der Einkommensgrenze liegt. Entlassen wir den Staat nur ruhig weiter aus seiner Verantwortung und begeben wir uns statt dessen noch tiefer in gegenseitige Abhängigkeiten. Es trifft ja wieder nur die ohne Arbeit, die Kranken, die Behinderten, die Älteren.
Schaut man sich das Einkommenssteuerrecht genauer an, so sieht man, daß vor allem durch die Steuerklasse V sowie das Ehegattensplitting unterschiedlich hohe Einkommen gefördert werden. In besonderer Weise werden Einverdiener-Haushalte, in denen in der Regel der Mann "seine" Frau mitfinanziert, begünstigt. Heiraten für Lesben und Schwule heißt also auch, einer gut verdienenden Lebensgefährtin hohe Steuervergünstigungen zu ermöglichen, weil ihre Liebste kein Einkommen hat. Statt BeziehungspartnerInnen finanziell auf eigene Füße zu stellen, werden neue ökonomische Abhängigkeiten geschaffen. Zudem kämen nur Paare in den Genuß von Steuervorteilen, Versicherungsrabatten, dem Nachzugsrecht für nichtdeutsche PartnerInnen oder dem Zeugnisverweigerungsrecht.
Der LSVD beschränkt sich aber eben darauf, für Lesben und Schwule all das einzufordern, was Heteros auch dürfen und kreisen so allein um das Heiratsrecht, ob es die "Solidarität mit MigrantInnen" ist oder Antidiskriminierungsklauseln, "damit Lesben, Schwule und alle anderen diskriminierten Minderheiten ihre Interessen auch auf rechtlichem Wege durch ihre Organisationen durchsetzen können". Was braucht's dazu eigentlich die Ehe?
Oder nehmen wir den Bereich "Antigewaltarbeit". Aus Deiner Arbeit mit dem Überfalltelefon wirst Du wissen, daß die allgemeine Bereitschaft, Gewalt auszuüben, insgesamt stark zugenommen hat. Hierfür gibt es verschiedenste Ursachen.
Erstens ist mit der Annexion der ehemaligen DDR durch die Bundesrepublik ungefähr ein Viertel der gesamten erweiterten Bevölkerung Deutschlands in eine tiefe Krise gestürzt worden. Mit der Realisierung der Härte kapitalistischer Verhältnisse ging und geht der Werteverlust vormaliger Errungenschaften einher. Gesicherte Arbeitsverhältnisse gibt es kaum noch, vor allem Frauen, ältere Menschen und Jugendliche bekommen deutlich zu spüren, was eine desolate Arbeitsmarktpolitik à la BRD bedeutet. Vor allem in den neuen Bundesländern ist die Jugendarbeitslosigkeit immens hoch keine Betriebe, die den Jugendlichen Ausbildungs-, geschweige denn Arbeitsplätze bieten könnten. Das Ergebnis ist eine große Anzahl frustrierter Jugendlicher und junger Männer und Frauen, die die Orientierung vollends verlieren und sich als "Looser" dieser Gesellschaft identifizieren.
Ein zweiter Grund für die Zunahme von Gewaltbereitschaft liegt wohl in der konsequenten Umsetzung des Leistungsprinzips, der daraus logischerweise zwingend folgenden allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung hin zu mehr und mehr Konkurrenz der KollegInnen, BürgerInnen untereinander, zur Isolation einzelner, unter anderem auch durch verstärkte Anwendung sogenannter neuer "Kommunikations"technologien schon im Kindesalter und dem damit einhergehenden Unvermögen zu sozialer Wahrnehmung und Verantwortung.
Bei gleichzeitigem verschärften Abbau von psychologischer Versorgung durch vorgebliche Sparzwänge (die in den Bereichen Rüstung, Straßenbau etc. eher minimale Auswirkungen zeigen) und dem gesellschaftlichen und politischen Unwillen zur Errechnung der Folgekosten für nicht geleistete Sozialarbeit (ansteigende Kriminalität, ansteigende Krankheitsrisiken, ansteigende Notwendigkeit zur Rundumversorgung einzelner Menschen etc.) wächst die Wut auf der Straße, bei den "Kleinen", die immer und immer wieder mit dem Rücken gegen die Wand gedrängt werden.
Nun ist es in patriarchal geprägten Gesellschaften, wie z.B. der BRD, rollenspezifisch festgelegt, wer bzw. welche sich wie zu verhalten hat. So sind "typisch" weibliche Eigenschaften in der Logik solcher Gesellschaften das Einfühlungsvermögen, die Duldsamkeit, die Passivität, "typisch" männliche "Forscherdrang", Aggressivität, Durchsetzungsvermögen. So nimmt es nicht wunder, und die Statistiken bestätigen es, daß es sich vornehmlich um Männer und männliche Jugendliche handelt, die vermittels Gewalt ihre Ziele erreichen wollen, ihren Frust abzubauen versuchen.
Nun soll das alles nicht heißen, daß Frauen keine Gewalt ausüben. Da allerdings nur offen zutage tretende Gewalt im gesellschaftlichen Blickfeld erscheint, sind die Frauen zunächst einmal nicht so auffallend, da ihre Möglichkeiten, Gewalt anzuwenden bei weitem eingeschränkter sind als die der Männer.
Tatsächlich gibt es Untersuchungen, die besagen, daß Frauen in der großen Mehrzahl eher autoaggressiv reagieren, also eher selbstzerstörerisch gegen sich wüten, da es für Mädchen, bei aller regionaler Unterschiedlichkeit, z.B. nicht "schicklich" ist, Wutanfälle zu haben, Türen knallend ihre Ablehnung zu äußern etc., während dies bei Jungen als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Es mag antiquiert klingen, ist leider aber noch immer Konsens der "Volksseele", des allgemeinen Empfindens, daß (plattes Beispiel zugegeben) ein Mädchen weinen darf und ein Junge nicht.
Logischerweise sind Tausende von Jahren patriarchaler Herrschaft, christlicher "Ver"ziehung nicht innerhalb von wenigen Jahren vom Tisch zu wischen, sind die tradierten Gefühle in puncto Rollenverhalten nicht an- und auszuknipsen wie ein Lichtschalter. Allerdings ist die Gelegenheit günstig, sich mal grundlegende Gedanken zu machen angesichts grassierender kapitalistischer Idiotie, die weltweit zu spüren ist. Hierhinein gehört die Frage nach der Einteilung der Welt in Zweigeschlechtlichkeit genauso, wie die nach der Systemimmanenz von Zwangsheterosexualität. Die Frage nach der Vielfältigkeit von menschlichen Lebensformen, von individueller Lebensgestaltung und -planung gehört in ebendiesen Zusammenhang.
Wenn von Gewalt gegen Schwule die Rede ist, sollte man immer auch Vergewaltigungen, sogenannten "sexuellen Mißbrauch" von Mädchen und Jungen thematisieren. Dabei handelt es sich nicht um im eigentlichen Sinne "sexuelle" Handlungen, sondern um die klare Ausübung von Macht. Minderwertigkeitsgefühle, die Unfähigkeit zu normalen Kontakten, der Wille zur Macht über andere läßt den Mann, in dem Wissen um seine gesellschaftliche Geschütztheit, zum Vergewaltiger, Kindes"miß"braucher, "Schwulenklatscher" etc. werden. Die rechtliche Sanktionierung, der gesetzliche Wille zur Erkenntnisgewinnung gerade im Bereich der sexuellen Gewalt, ist in diesem Lande nach wie vor äußerst lahm und, trotz weniger Ausnahmen, noch bar jeglicher Kenntnis um die Hintergründe von Gewalt in den entscheidenden Bereichen (z.B. Gerichtsbarkeit, Polizei, Ärzteschaft etc.).
Für die Glaubwürdigkeit der im Antigewaltbereich Wirkenden ist es daher unabdingbar, die Diskussion zum Thema sexuelle Ausbeutung möglichst breit zu führen, die oft ideologisch verklärten Vorstellungen einer "befreiten" Sexualität zu erkennen und konsequent über eine, auch sexuelle, Befreiung nachzudenken, eine emanzipatorische, feministische Politik zu entwickeln.
Eigentlich ist es ganz einfach: Gleiche Rechte für alle egal wie sie leben, ob lesbisch, schwul, bi- oder heterosexuell, allein, in einer Lebensgemeinschaft, mit anderen oder verheiratet, ob sie Deutsche oder Nichtdeutsche sind wird es nur dann geben, wenn die Ehe keine finanziellen oder rechtlichen Vorteile mehr bringt. Für eine tatsächliche Gleichstellung aller Lebensweisen fordern wir deshalb die Abschaffung der Eheprivilegien und eine Hinwendung zum Individualrecht, angefangen bei der Besteuerung, über ein Zeugnisverweigerungsrecht, dem Besuchsrecht im Strafvollzug, dem Auskunftsrecht im Krankheitsfall oder dem Recht auf eine gemeinsame Sozialwohnung.
Gesellschaft verändern heißt für uns, etwas an den wirklichen Ursachen verändern. Der Sozialabbau und der Kahlschlag im Gesundheitswesen hat verheerende Folgen für alle, besonders für HIV-PatientInnen. Bei der Aids-Forschung wird gestrichen, weil sich damit nur begrenzt Geld verdienen läßt. Niedrige Löhne bei mehr Arbeitsleistung, oft schlechter Ausbildung usw. haben zu einem geringeren Lebensstandard geführt. ImmigrantInnen sind neben Frauen die ersten, die es trifft.
Europaweit gibt es gegenwärtig Kampagnen für die traditionelle Familie. Blair hat in Großbritannien eine Hetzkampagne gegen alleinerziehende Mütter gestartet, die auch lesbische Mütter trifft: sie seien Schuld an der Frustration der Jugend, was Kriminalität bedeute. Dagegen müssen wir uns beispielsweise zur Wehr setzen.
Herzliche Grüße
Astrid Keller, Markus Bernhardt, Hanno May