Positionen des whk, Ausgabe vom März 2000
Verleugnet und vergessen
Leben und Werk des Kommunisten Richard Linsert
Kein Jüngling kann schöner sein als er mit diesem Ineinander von Sportlichkeit und Lieblichkeit, Haltung und Lockerung, Härte und Zartheit. Schwerlich ein Ganymed- oder Adonis-Typ, aber allerdings an den Speerträger und den Diadumenos Polyklets erinnernd, auch an Gestalten Rodins. (Kurt Hiller)
Hirschfeld, Hiller und Spohr das sind die Namen, die die schwule Geschichtsschreibung mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) verbindet. Sozialdemokraten und Liberale. Doch in der Weimarer Republik gab es eine ganze Reihe von Mitgliedern des WhK, die in anderen politischen Organisationen oder Initiativen organisiert und engagiert waren. Schwule Hobbyhistoriker schweigen dazu. Aber um die Vielfalt und die politische Bedeutsamkeit des historischen WhK begreifen zu können, ist es unumgänglich, auch andere Personen des WhK zu würdigen. Zum Beispiel Richard Linsert.
1923, mit 24 Jahren, wurde Linsert Leiter des Kartells gegen das Sexualstrafrecht des WhK und ab 1926 WhK-Schriftführer. Ab 1930 gehörte er dem Vorstand des WhK als Zweiter Vorsitzender an; gemeinsam mit Hirschfeld publizierte er zu Empfängnisverhütung (1929) und Aphrodisiaka (1930) und war 1929 Herausgeber von Paragraph 297: Unzucht zwischen Männern, eines Werkes zur männlichen Prostitution.
In den wenigen Veröffentlichungen, die den Namen Richard Linsert erwähnen, wird er als Ausnahmeerscheinung dargestellt. Grund dafür ist die Tatsache, daß Linsert Funktionär der KPD war. Tatsächlich war er exponierter Kader der KPD und des Rotfrontkämfperbundes (RFB). Dieser Aspekt ist aber nur ein Teil seiner politischen Arbeit, eine kleine Facette seiner Persönlichkeit. Linsert, der als Experte für sexualwissenschaftliche und -rechtliche Fragen für das WhK als unentbehrlich galt, war es zum Beispiel, der in den 20er Jahren den Begriff Freie Liebe durch seine Veröffentlichungen in die Linke und die Arbeiterbewegung der Weimarer Republik trug. Mit dieser Bezeichnung, stammend aus den avantgardistischen Kreisen von Künstlern und Intellektuellen nach der Jahrhundertwende, kennzeichnete Richard Linsert alles, was sich nicht den heterosexuellen Normen unterwarf. Dank dieser Begriffswahl gelang es in der Kommunistischen Internationale und in der frühen Sowjetunion, die Lebenssituation Homosexueller zu thematisieren. Auch die völlige Beseitigung der zaristischen Strafgesetze gegen Homosexualität durch die Oktoberrevolution vollzog sich unter der Begrifflichkeit Ausübung der freien Liebe. Erst unter der Führung von Josef Stalin wurde sie zu einem negativen Begriff, einem Schimpfwort, das dazu diente, ein neues repressives Strafgesetz gegen Homosexuelle einzuführen.
Aber nicht nur die Homosexualität wurde durch die Negativierung dieses Terminus stigmatisiert, auch die stalinistische sogenannte Neue Moral wurde auf diese Weise als Kontrapunkt zur Freien Liebe konstruiert. Mit dem Stigma Freie Liebe wurden sogar politische Gegner wie die Gruppe der Trotzkisten belegt und verfolgt. Die Neue Moral dagegen band den Sowjetmenschen an Partei und Staat. Die Ehe in bürgerlicher Ausformung stellte angeblich die Keimzelle auch des Sowjetstaates dar: junge Eheleute in einer glücklichen Welt!
Richard Linsert dagegen holte den Begriff Freie Liebe in die KPD und ihre Massenorganisationen und propagierte sie als eine sozialistische Möglichkeit zur individuellen Ausgestaltung von Lebensweisen. Zu Beginn eines Artikels im Roten Aufbau zitiert Linsert 1931 Antworten auf eine Umfrage zum Thema Freie Liebe. So meinten die Befragten, Freie Liebe sei eine Schweinerei, dekadente Sexualanarchie und Freie Liebe ist, wenn zwei Kommunisten verheiratet sind ... Aber auch seine eigene Partei, die KPD, bekam seine Widerspenstigkeit zu spüren. So schreibt Friedrich Kröhnke in der 1981 veröffentlichten Broschüre Marxismus und freie Liebe, der noch immer einzigen Monographie über Linsert nach 1945: Allerdings bezieht sich Linsert noch 1931 positiv auf Trotzki, als dieser bereits jahrelang verbannt war und sein Name in der stalinisierten KPD bereits wie der des Teufels in der Kirche ausgesprochen wurde. Auch die vorliegenden Texte weisen Richard Linsert ja eindeutig als jemanden aus, der oppositionelle Positionen innerhalb der KPD zu vertreten gewagt hat.
Linsert war schwul und Kommunist; beides sprach er öffentlich aus. Seine Engagement leitete er von beidem ab. Er muß somit nicht nur durch sein Wirken im WhK, sondern auch seine umfangreiche publizistische Tätigkeit als Vorkämpfer der Emanzipation der Sexualität und sozialer Verhältnisse angesehen werden. Er war aktiv, streitbar und unbeugsam. Sein Engagement bei der Vorbereitung der KPD auf die Illegalität nach der Machtübertragung an die Faschisten zeichnet ihn als aufrechten Kämpfer für eine menschliche Welt aus.
Richard Linsert begab sich am 30. Januar 1933, wie sein Freund, der WhK-Aktvist und Schriftsteller Kurt Hiller, notierte, trotz fiebriger Erkältung zu einer außerordentlichen Besprechung. Dabei ging es um die Organisierung der illegalen Arbeit der KPD. Infolge dieser Teilnahme erlitt Linsert einen schweren Rückfall, eine Lungenentzündung stellte sich ein. Am 3. Februar 1933 starb Linsert im Alter von 34 Jahren in Berlin an Herzversagen. Er wurde auf dem Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt.
Jürgen Aron Nehm
Von einst bis jetzt
Was hat das neue whk mit dem alten zu tun?
Nur eine optimistische Unterschätzung menschlicher Trägheit, Torheit und Bosheit, ein fanatischer, vielleicht sogar fatalistischer Glaube an die sieghafte Übermacht der Wahrheit als solcher, vor allem eine unendliche Geduld und Beharrlichkeit alles Gaben, die man sich schwer geben kann, wenn man sie nicht besitzt, verleihen die Fähigkeit und Festigkeit, die erforderlich sind, einer jahrtausendlangen Tradition und Suggestion den Garaus zu machen. (Magnus Hirschfeld)
Tradition und Selbstverständnis
Das am 26. Oktober 1998 in Berlin wiedergegründete whk versteht sich als Assoziation aktiver Gruppen. Wie sein Vorgänger legt es zwar in praktischer Hinsicht den Schwerpunkt auf die Situation von Lesben, Schwulen, Trans- und Intersexuellen, versteht sich aber sowenig wie das historische WhK als Teil einer Homosexuellenbewegung. Die von Magnus Hirschfeld und drei weiteren Herren 1897 gegründete Organisation von AktivistInnen muß im Zusammenhang der sexualreformerischen und -revolutionären Strömungen seit der Jahrhundertwende betrachtet werden.
Der Aufbruch zu einer neuen, aufgeklärten Zeit verkörperte sich nicht nur in den Programmen der sozialistischen Parteien und in der Revolution von 1918, deren glühender Anhänger Hirschfeld war. Auch die alten Konzepte von Ehe und Familie, überkommene Vorstellungen von der Einteilung in zwei Geschlechter sowie die Norm der heterosexuellen Paarbeziehung wurden einer kritischen Prüfung unterzogen. Hirschfeld setzte unter dem Wahlspruch Durch Wissen zur Gerechtigkeit auf die Macht autonomen Denkens und vernünftigen Argumentierens statt auf seine schwule Identität. Auch Richard Linsert, der seit 1930 dem Vorstand des WhK als zweiter Vorsitzender angehörte, verstand sich nicht als politisch organisierter Homosexueller, sondern dies geben seine Veröffentlichungen in den 20er Jahren deutlich zu erkennen als Teil einer sexualpolitischen Avantgarde, die mit dem Begriff der Freien Liebe operierte. Dies unterscheidet das WhK von allen anderen Organisationen seiner Zeit, die sich, wie etwa der Bund für Menschenrechte oder die Gemeinschaft der Eigenen als homosexuelle Massenverbände verstanden. Aus dem WhK ging statt dessen schon früh die an übergreifender sexueller Emanzipation orientierte Weltliga für Sexualreform hervor, zu der auch die Sowjetunion regelmäßig Delegierte entsandte.
Anfang der 20er Jahre führte die sexuelle Avantgarde im jungen Sowjetstaat zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbruch und gleichgeschlechtlicher Liebe, zur rechtlichen Aushöhlung der Ehe, zur Emanzipation der Frau von der ihr auferlegten gesellschaftlichen Rolle und zu zahlreichen Experimenten mit neuen Lebensformen. Erst durch die weltgeschichtliche Katastrophe der 30er und 40er Jahre, die auch für die Weltliga für Sexualreform das rasche Ende bedeutete, wurden in der Sowjetunion unter Josef Stalin die irrationalen Konzepte von Ehe, Familie und Vaterland zu neuem Leben erweckt.
Organisationsstruktur
Das whk setzt sich dezentral aus bislang drei selbständig agierenden Regionalgruppen (Berlin, Rheinland, Ruhrgebiet), einer Unterstützergruppe (Schwule Welle bei Radio Dreyeckland) und AnsprechpartnerInnen in verschiedenen Bundesländern (Hessen, Bayern, Schleswig-Holstein) zusammen.
Das whk sieht sich wie sein historisches Vorbild nicht als Massenverband, sondern kennt nur die Möglichkeit der aktiven Mitgliedschaft in einer seiner Regionalgruppen und der passiven im Förderverein des whk. Er gewährleistet die Finanzierung der nicht selbst als Vereine organisierten Regionalgruppen und ermöglicht als juristische Person beispielsweise die Anmietung von Räumlichkeiten.
Kampagnen: Beispiel Lebensformenpolitik
Das whk teilt mit der Lesben- und Schwulenbewegung der 70er Jahre den Bruch mit einer um bloße Anerkennung ringenden Bürgerrechtspolitik. Nicht wenig Zeit verwendet es darauf, die von den lesbisch-schwulen Bürgerrechtsvereinen angestrebte Anpassung an die Institutionen der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft kritisch zu hinterfragen. Als sexualpolitische Assoziation propagiert es die Loslösung von alten Rollen und sexuellen Normsetzungen. Schwerpunkt seiner Kampagnen ist es daher, an die Stelle der Homo-Ehe als Forderung der Schwulen- und zunehmend auch der Lesbenbewegung das reformerisch angelegte Konzept frei delegierbarer Angehörigenrechte kurz Wahlverwandtschaften zu setzen. Ein solches liegt bereits in mehreren Gesetzentwürfen ausgearbeitet vor: etwa in dem des Bundesverbandes Homosexualität (BVH) aus den 90er Jahren und, weiterentwickelt, im Entwurf zur Gleichstellung aller Lebensweisen der parteilosen Bundestagsabgeordneten Christina Schenk von 1998.
Das whk hat zur Lebensformenpolitik im Herbst letzten Jahres eine umfangreiche Kampagne gestartet, die über Plakate und Aufkleber sowie stetige Pressearbeit und Repräsentanz im Internet auf die infame Ja-Wort-Kampagne des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD) antwortet, welche es der homophoben Mehrheit der Deutschen anheimstellt, über die Rechte einer Minderheit zu entscheiden. Viel liegt der Assoziation daran, die Kampagne als eine zu verstehen, die in lesbischen und schwulen Jugendlichen den Stolz auf eigene Lebensmodelle und den Trotz gegen homophile Anbiederungsversuche weckt. Hierzu hat sich das whk aggressiver und expliziter Slogans aus der Jugendsprache bedient, beispielsweise: Heiraten? Wie bist du denn drauf, Alter oder Wir scheißen auf Euer Jawort!. In ihnen wird das Macht- und Bewertungsverhältnis umgekehrt, das im Slogan Geben Sie uns Ihr Jawort! Homosexuelle als Bittsteller für ihre Rechte erscheinen läßt.
Demonstrationen: Antirassismus, Pazifismus und Kirchenkritik
Das whk beteiligte sich maßgeblich an der Organisation und politischen Ausgestaltung des CSD 1999 in Berlin, in dessen Forum es einen der beiden neutralen Moderatoren stellen und in dessen Forderungskatalog es die Forderung nach Streichung der Ehe aus dem Grundgesetz sowie nach einem Bleiberecht für alle hier lebenden Menschen verankern konnte. Darüber hinaus waren es maßgeblich das whk und seine Vorgängergruppen, die zwei Jahre lang demokratische Verfahrensweisen auf dem CSD-Forum etablierten. In Dortmund war das whk der hauptverantwortliche Veranstalter des CSD und schaffte es, dem Motto: Lesben und Schwule für eine Gesellschaft ohne Diskriminierung und Rassismus eine demokratische Mehrheit zu erringen. Der Schwerpunkt des rheinländischen whk lag hingegen nicht zuletzt aufgrund der verfestigten und undemokratischen Struktur des Kölner CSD auf Mitarbeit in pazifistischen und antiklerikalen Veranstaltungen. Das whk plakatierte auch in der Szene gegen den Angriffskrieg auf Jugoslawien und beteiligte sich an den Protesten gegen die rassistische Kampagne der CDU wider die doppelte Staatsbürgerschaft.
Pressearbeit: Bloßstellung von Homophobie
In Form von Presseerklärungen und Unterschriftensammlungen reagierte das whk auf homophobe Ereignisse in der bundesdeutschen Gesellschaft. So auch im Fall des Nachrichtensprechers Jens Riewa, der sich in einer Klage gegen den Querverlag davor verwahrte, als schwul bezeichnet zu werden. Die Diktion der whk-Presseerklärung unterschied sich hierbei deutlich von den sonstigen Verlautbarungen in der Szene: Nicht Identitäts- und Betroffenheitspolitik, sondern die Tatsache, daß Jens Riewa vor Gericht wegen der Unterstellung, schwul zu sein, auf Schmerzensgeld klagen konnte, während die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus bis heute nicht entschädigt wurden, war die Relation, die vom whk hergestellt wurde, um das Justizsystem in seiner homophoben Urteilspraxis bloßzustellen.
Mit ähnlich scharfen Worten begegnete das whk der von ihm als völkische Hetzjagd apostrophierten Abwahlkampagne, welche die Bewohner von Quellendorf gegen ihre zum anderen Geschlecht überwechselnde Bürgermeisterin gestartet hatten. Es war die einzige lesbisch-schwule Organisation, die sich mit klaren Worten solidarisierte und an der weltweit im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz in dem sachsen-anhaltinischen Dorf teilnahm. Michaela Lindner stellte sich daraufhin in einer vom whk veranstalteten Pressekonferenz zur Verfügung, um die von ihm betriebene Schwerpunktsetzung des Berliner CSD 1999 auf die Themen Trans- und Intersexualität der Presse zu erklären. Lindner ist heute Ehrenmitglied des whk-Fördervereins.
Parlamentarische Anfragen: Medizinkritik
Den Themen Trans- und Intersexualität war von Anfang an einer der zehn Punkte des vorläufigen whk-Programms gewidmet. Für die Zukunft sind unter anderem Kampagnen gegen Genitalverstümmlungen an intersexuellen Kindern durch die auf rigide Einhaltung der Zweigeschlechtlichkeit bedachte moderne Medizin geplant. Mit der Rolle der Medizin in der Festschreibung gesellschaftlicher Normen hat sich das whk wiederholt kritisch auseinandergesetzt, zuletzt anläßlich der Richtlinien zur assistierten Reproduktion von 1998. Das whk stellte hierzu nicht nur eine Anfrage bei der verantwortlichen Bundesärztekammer, in der akribisch die homophoben, eugenischen und Frauen entmündigenden Tendenzen dieser für Ärzte bindenden Vorschriften bloßgestellt wurden; durch Zusammenarbeit mit der Abgeordneten Christina Schenk konnte auch eine Anfrage im Bundestag lanciert werden. In ihr wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die Bundesregierung sich auf dem Gebiet der künstlichen Befruchtung die gesetzgebende Gewalt von einer Organisation aus den Händen nehmen lasse, welche offenbar noch immer die Verhütung erbkranken Nachwuchses und den Schutz der heterosexuellen Kleinfamilie gegen alle ihren Zwangscharakter aufweichenden Lebensformen in den Mittelpunkt stellt.
Publikationen: Förderung der politischen Diskussion
Daneben versucht das whk seit Anfang 1999 mit seinem Massenflugblatt: Positionen des whk ein kritisches Medium zu etablieren, das die politische Diskussion innerhalb der homosexuellen Subkultur wiederbelebt. Bislang beschäftigte sich die Publikation mit schwuler NS-Gedenkkultur, machte auf die Verödung der lesbisch-schwulen Presselandschaft aufmerksam oder stellte rassistische und antidemokratische Tendenzen in einzelnen Szenevereinen bloß. Eines der aufwendigsten Projekte des wissenschaftlich-humanitären komitees ist die Herausgabe von Gigi, einer Publikumszeitschrift für sexuelle Emanzipation, die sich neben kulturellen Themen schwerpunktmäßig mit Transsexualität/Transgender, Prostitution, Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung, Homo-Ehe, Bevölkerungspolitik, Queer Theory, Homophobie in der Linken, Rassismus und Antisemitismus beschäftigt. Mit ihrem im Gegensatz zu den Positionen des whk vorwiegend gesellschaftsanalytischen Anspruch schlägt sie einen Bogen zu den Bemühungen des historischen WhK, seine emanzipatorische Arbeit auf tiefgreifendere wissenschaftliche Analysen zu gründen.
Super-Hirschfeld-Sparwoche
Ein chronologischer Anlaß ... hätte zu dem verführen können, was man Würdigung nennt. Aber deren Begriff, wenn er überhaupt je etwas taugte, ist unerträglich geworden. Er meldet den unverschämten Anspruch an, daß, wer das fragwürdige Glück besitzt, später zu leben, und wer von Berufs wegen mit dem befaßt ist, über den er zu reden hat, darum auch souverän dem Toten seine Stelle zuweisen und damit gewissermaßen über ihn sich stellen dürfe.
(Theodor W. Adorno)Berlin, 6. bis 19. März 2000. Auf Initiative des Ventura Filmverleihs findet eine Magnus-Hirschfeld-Woche zur Promotion des Rosa-von-Praunheim-Films Der Einstein des Sex statt. Anhand ihrer Protagonisten bietet sich einmal mehr die wunderbare Gelegenheit, den inhaltlichen und moralischen Verfall einer sozialen Bewegung aus der Nähe zu betrachten. Von Eike Stedefeldt
Mit Erstaunen erfuhr die Berliner Regionalgruppe des whk Ende Februar aus der Presse von der Magnus-Hirschfeld-Woche 2000. Am 1. März sandte sie eine freundliche Anfrage an die Veranstalter, warum es denn nicht einbezogen wurde, obwohl der Name des bedeutenden Sexualwissenschaftlers untrennbar mit dem von ihm gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) verbunden sei. Schließlich stehe das 1998 neu gegründete whk von seiner gesamten Konzeption her in der Tradition des historischen WhK und lasse dies in eine zeitgemäße sexualemanzipatorische Arbeit münden (z.B. Kritik der Reproduktionsmedizin, Lebensformenpolitik, Geschlechterdemokratie, Rechte Trans- und Intersexueller). Bundesweit bekannt, arbeite es mit vielen Szenebetrieben und -vereinen zusammen.
Mit Schreiben vom 7. März erklärte die Pressesprecherin der Magnus-Hirschfeld-Woche, Andrea Winter, die Nichteinbeziehung damit, daß im seinerzeit mehr oder weniger zufällig zusammengefundenen Initiatorenkreis kein Vertreter das whk vorgeschlagen habe. Von Ausgrenzung kann daher keine Rede sein, so Winter. Bloße historische Unkenntnis also?
Das Gegenteil ergab eine telefonische Nachfrage beim mitveranstaltenden und sponsernden Szenekalender Siegessäule am 10. März. Laut Geschäftsführer Bernd Offermann liege der Ausschluß des whk daran, wie ihr euch in der Szene darstellt. Offermann zitierte in diesem Zusammenhang Volker Beck (MdB), den Sprecher des staatstragenden Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD). Dieser habe auf einer Podiumsdiskussion zur Rehabilitation homosexueller NS-Opfer am 9. März in der SPD-Zentrale vom whk als sogenanntem gesprochen, dem wir das Recht absprechen, sich so zu nennen.
Der Vorgang ist bezeichnend. Die schwul-lesbischen Medien leben rein ökonomisch von zwei zentralen Mythen: zum einen dem der Existenz einer Gay Community und zum anderen dem einer staatlichen Homosexuellen-Diskriminierung, die es seit Streichung des §175 im Jahre 1994 faktisch nicht mehr gibt (staatlich diskriminiert werden nämlich alle nichtehelichen Lebensweisen, und alle anderen Diskriminierungen sind gesellschaftlicher Art). Beide Mythen werden von den kommerziellen Homo-Medien alle sozialen und politischen Unterschiede ignorierend oder leugnend ebenso beharrlich gepflegt wie von den bürgerlichen Lobbyvereinen, allen voran der regierungsnahe LSVD.
Was könnte eigentlich ihre Scheinheiligkeit und Verlogenheit schöner entlarven als die bewußte Ausgrenzung abweichender Vorstellungen von Emanzipation?
Dahinter steckt schlichtes Machtkalkül: Für Homo-Gazetten als Teil der etablierten Homowirtschaft wie für die arrivierte schwul-lesbische Politikerkaste sind fundierte Kritik an ihrer konservativen Identitätspolitik und die Demontage des Community-Märchens massiv geschäftsschädigend. Klasse fürs Geschäft beider Sorten homophiler Marktführer (O-Ton LSVD) ist hingegen, sich im Lichte wohlfeiler Legenden zu sonnen. In diesem Falle sich mit dem Namen Magnus Hirschfelds zu schmücken. Daß das, was sie heute politisch betreiben, nicht ansatzweise mit dem zu tun hat, was ein Hirschfeld oder gar andere herausragende Figuren des historischen WhK unter Emanzipation verstanden, interessiert die Bürgerlichen nicht. Wagt indes jemand, diese kaltschnäuzige Vereinnahmung in Frage zu stellen, läßt sich dies kein Marktführer ungestraft bieten.
Unfähig und unwillig zu inhaltlicher Debatte, versehen mit dem Bewußtsein und der Arroganz der Macht, maßt sich der vom Autor mehr als jeder andere dafür gehaltene homopolitische Emporkömmling in diesem Lande an zu definieren, wem der Name und damit die Tradition des WhK gebührt und wem nicht. Hirschfeld und sein WhK werden von einem Beck und seinen Claqueuren nicht nach wissenschaftlichen Kriterien und historischen Fakten bewertet, ihre Erfahrungen und Fehler weder analysiert noch politisch fürs Heute nutzbar gemacht. Vielmehr werden sie sinnentleert als obskure Ikonen benutzt, die sich in Mark und Pfennig umsetzen lassen oder aus denen sich politisches Kapital schlagen läßt. Oder die sich schick auf einer Frontpage verkaufen lassen: Ich und mein Magnus.
Bei seriöser Betrachtung ist der konkrete Fall freilich kindisch und hat höchst amüsante Noten: Eine Magnus-Hirschfeld-Woche zu organisieren und wie die Journalistin Andrea Winter in ihrem Brief ans whk freimütig zu bekennen, niemandem sei dabei das wissenschaftlich-humanitäre komitee in den Sinn gekommen, ist schlicht grotesk und disqualifiziert sämtliche daran Beteiligten.
Doch an sich sollte einem das Lachen im Halse stecken bleiben. Das intellektuelle Armutszeugnis und Eingeständnis undemokratischer Gesinnung wären noch zu ertragen, nicht aber die postume Beleidigung Magnus Hirschfelds: Reduziert auf seinen Namen, dessen beraubt, was seine wissenschaftliche und politische Leistung ausmachte eben auch der Kampf gegen Ausgrenzung des Abweichenden , wird er nunmehr zur Hure des homophilen Bürgerrechts degradiert.