Die Urania Berlin e.V.
Geschäftsführung / Dr. Ulrich Bleyer
An der Urania 1710787 Berlin
Berlin, 5. 11. 2007
Offener Brief an Vorstand, Programmbeirat, Wissenschaftlichen Beirat sowie Kuratorium
Sehr geehrte Damen und Herren,für Donnerstag, den 22.11.2007, kündigt die Urania Berlin e.V. einen Vortrag an mit dem Titel "Pädophilie und Gewalt wie wir unsere Kinder vor Mißbrauch schützen". Als Referenten annonciert sie "Manfred Karremann, Dipl. Sozialpädagoge/Journalist, Autor von 'Es geschieht am hellichten Tag' Die verborgene Welt der Pädophilen'" sowie "Jürgen Lemke, Psychotherapeut, Mit-Autor von 'Härte mein Weg aus dem Teufelskreis der Gewalt', Berlin".
Als langjährig sexualpolitisch aktive Mitglieder des wissenschaftlich-humanitären komitees (whk) ersuchen wir Sie dringend, diese Veranstaltung aus dem Programm zu streichen.
Bereits vom Titel "Pädophilie und Gewalt wie wir unsere Kinder vor Mißbrauch schützen" geht ein verheerendes gesellschaftspolitisches Signal aus. Pädophilie ist wissenschaftlich betrachtet eine sexuelle Orientierung bzw. erotische Präferenz, die sich wie alle sexuellen Orientierungen oder erotischen Präferenzen am individuellen Lustobjekt festmacht. Mit Recht würde darum harsche Kritik ernten, wer einen Vortrag zu "Heterosexualität und Gewalt" hielte, weil eine solche Kontextuierung absurd wäre. Die Ausübung von (sexueller) Gewalt basiert per se eben nicht auf irgendeiner Triebrichtung, sondern geht von einer konkreten Person mit individuellen Eigenschaften aus. Ob diese
Person sexuelle Gewalt ausübt und damit Gesetze bricht, hat ursächlich so wenig mit ihrem bevorzugten Sexualobjekt oder Sexualpartner zu tun wie Pädophilie mit "Mißbrauch" von Kindern. Für höchst bedenklich halten wir es auch, besagte Kinder mit dem Possessivpronomen "unsere" zu versehen. Davon abgesehen, daß es demnach nicht um den Schutz aller, sondern nur bestimmter Kinder geht, werden sie so kurzerhand zum Gemeingut deklariert.
Statt nun einer hysterisierten Situation mit kriminologischen Fakten (zum Beispiel der laut amtlichen Kriminalstatistik seit Jahrzehnten sinkenden oder stagnierenden Fallzahlen sogenannten sexuellen Kindesmißbrauchs) und wissenschaftlichen Argumentationsweisen zu begegnen, wird die allgemeine Angst weiter angeheizt und eine Verschwörung suggeriert, wenn es im Ankündigungstext heißt:
"Nach Schätzungen der Polizei gibt es hierzulande rund 60.000 Männer mit der sexuellen Neigung zu kleinen Jungen, Mädchen und sogar zu Babys. Wie sind die Pädophilen organisiert, wie erschleichen sie sich das Vertrauen der Kinder und ihrer Eltern, was sind ihre Denkweisen und Lebenslügen?"
Dieser Text baut zunächst einen Popanz auf: "60.000 Männer mit der sexuellen Neigung zu kleinen Jungen, Mädchen und sogar zu Babys", geschätzt noch dazu von einer für die Verfolgung konkreter Straftaten, nicht aber für sexualwissenschaftliche Schätzungen zuständigen Polizei, ist eine kriminologisch völlig unsinnige Aussage. Indes macht sie Stimmung gegen eine einzelne Bevölkerungsgruppe. Dazu mußte diese zuvor allerdings durch Reduktion komplexer Persönlichkeiten auf ganze zwei Einzelmerkmale nämlich Geschlecht und sexuelle Orientierung erst definiert werden. Allein aufgrund dieser beiden Merkmale wird dieser Bevölkerungsgruppe eine Gemeingefährlichkeit zugeschrieben und diese im nächsten, einem Fragesatz zur Verschwörung hochstilisiert. Der Frage "Wie sind die Pädophilen organisiert?" worin der Artikel "die" die Gemeinten ent-individualisiert und zum Feindbild zusammenschweißt (vgl. dazu Victor Klemperer: Lingua Tertii Imperii) folgt unmittelbar die Suggestion einer ihnen angeblich eigenen kriminellen Energie: Von "Vertrauen erschleichen" ist die Rede und von "Lebenslügen". Einer solchen Generalisierung und pauschalen Abwertung wohnt unseres Erachtens ein hohes Verhetzungspotential inne. Und es geht ähnlich weiter:
"Jürgen Lemke arbeitet mit Mißbrauchs- und Gewalt-Delinquenten, und Manfred Karremann ist ein Jahr lang inkognito in der Pädophilen-Szene unterwegs gewesen diskutieren Sie mit den Experten deren erschreckende Erkenntnisse, aber auch, wie Pädophile behandelt und wie Kinder vor Gewalt und Mißbrauch geschützt werden können!"
Eine "Szene", in der ein Boulevardjournalist "ein Jahr lang inkognito unterwegs" sein muß, um "erschreckende Erkenntnisse" zutage zu fördern, kann wohl nur aus "Mißbrauchs- und Gewalt-Delinquenten" bestehen und nicht aus Menschen mit bürgerlicher Existenz, deren sexuelle Präferenz mit geltenden Gesetzten und Moralvorstellungen kollidiert. Doch Rettung naht in Form von "Behandlung", sei es psychotherapeutisch, medizinisch-pharmazeutisch (mittels der als chemische Kastration bekannten "Behandlung"), erkennungsdienstlich oder strafrechtlich. Kriminalität ist dieser Diktion folgend eine Krankheit und hat nicht etwa soziale, ökonomische oder politische Ursachen.
Die vermittelte Botschaft des Ankündigungstextes ist: Pädophilie ist gleichbedeutend mit oder führt unausweichlich zu sexueller Gewalt, ist eine ernste Krankheit, aber individuell wie gesellschaftlich heilbar. Die Kranken, Pädophile (und auf gut Sexistisch ist ausschließlich von Männern die Rede), sind höchstwahrscheinlich psychisch gestört und eine Bedrohung durch ihre bloße Existenz, mithin Fälle für Therapeuten wie Lemke und "verdeckte Ermittler" wie Karremann.
Daß Manfred Karremanns "investigative" Recherchen "in der Pädophilen-Szene" und ihre in Schrift- und Bildsprache in hohem Maße demagogische Aufbereitung für die von der Skandalisierung lebende Illustrierte "Stern" nicht nur den ethischen Prinzipien eines seriösen Journalismus widersprechen, sondern auch den Rechtsstaat aushebeln, wies bereits Anfang 2004 eine ausführliche Analyse von Reinhard Mokros nach, seines Zeichens Polizeidirektor und Dozent für künftige Polizeikommissare an der Duisburger Fachhochschule für öffentliche Verwaltung. Karremanns Aktivitäten, die überdies keine Rücksicht auf die an seinen "Fällen" beteiligten Minderjährigen und deren Angehörige nahmen, stellten demnach "eine Gefahr für den rechtsstaatlichen Strafprozeß" dar.
Laut Selbstdarstellung hat die Urania Berlin e.V. die Aufgabe, "wissenschaftliche Bildung für alle Bürger zu vermitteln", dies sei "die demokratische Aufgabe, der sich die Urania als Verein mit 2000 Mitgliedern verpflichtet hat". Sie biete "ohne staatliche Förderung jährlich mehr als einer Viertelmillion Besuchern aller Altersstufen ein Kultur- und Bildungsprogramm, das neueste Erkenntnisse aus allen Wissensgebieten von hervorragenden Referenten vermittelt". Die "Vermittlung von Wissen durch diejenigen, die es selbst neu gewonnen haben, das ist das Erfolgsrezept der Urania, das bis auf Alexander von Humboldt zurückgeht." An diesem Anspruch gemessen hat die geplante Veranstaltung nichts unter dem Dach der Urania Berlin e.V. zu suchen. Vorurteilsbeladene Propaganda auf Kosten wegen ihres Seins und nicht wegen ihres Tuns oder Lassens pauschal und als Gruppe kriminalisierter Menschen, Massen-Hysterisierung, Schwarz-Weiß-Malerei und Ignoranz sind ebenso wie eine zweckdienliche Schwammigkeit der Termini das Gegenteil von Wissenschaftlichkeit.
Ein Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Urania ist Prof. Dr. Wolfgang Wippermann vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin. Er hat sich nicht nur mit der NS-Zeit und ihrem Echo im Nachkriegsdeutschland ausgiebig befaßt. Eines seiner derzeitigen Themen sind die demokratiefeindlichen Verschwörungstheorien der Gegenwart. Der Ankündigungstext suggeriert nichts anderes als eine pädophile (Welt-)Verschwörung, deren willige Annahme durch Gesellschaft und Politik ihre demokratiezersetzenden Effekte bereits drastisch in der Praxis schier uferloser Strafrechtsverschärfungen erwiesen hat. Insofern dürfte Prof. Dr. Wippermann in dieser Ankündigung ein Musterbeispiel seines Forschungsgegenstandes vorfinden.
In der Anlage übersenden wir Ihnen einige Exemplare der vom whk herausgegebenen sexualpolitischen Fachzeitschrift "Gigi" (Ausgabe 29, Januar/Februar 2004), in der es schwerpunktmäßig um die dubiosen Recherchen Ihres als "Experte" angekündigten Referenten ging. Wir hoffen, daß die Lektüre zu einer positiven, den seriösen Ruf der Urania Berlin e.V. wahrenden Entscheidung beiträgt.
In Erwartung Ihrer zeitnahen Rückauskunft und mit freundlichen Grüßen
PD Dr. Florian Mildenberger
whk-Gruppe Berlin, AG Schwulenpolitik des whk