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An die TeilnehmerInnen des 18. Verbandstages des
Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland e.V.
im Bürgerzentrum Deutz
Tempelstraße 41-43
50679 Köln25. März 2006
Grußwort an den 18. LSVD-Verbandstag
Liebe Mitglieder des Lesben- und Schwulenverbands,zum LSVD-Verbandstag sendet Euch das wissenschaftlich-humanitäre komitee Grüße nach Köln.
Wieder liegt ein Jahr Lesben- und Schwulenpolitik hinter Euch, in dem auch Ihr mit großen Veränderungen der Rahmenbedingungen konfrontiert wart allem voran im Frühjahr und Herbst zwei Regierungswechseln zu Lasten Eurer traditionellen parlamentarischen Schutzmacht. Damit sind Euch neben finanziellen Ressourcen auch politische Lobbymöglichkeiten weggebrochen bzw. akut gefährdet und spürt nun auch Ihr das jahrelange, durch vollmundige Antidiskriminierungsbekenntnisse nur schlecht getarnte sexualpolitische Rollback.
Dennoch gelang es Euch, mit Brigitte Zypries eine Vertreterin der alten wie neuen Regierung zum Besuch des Verbandstages zu bewegen, die als Justizministerin maßgeblich an der Verschärfung der durch Verarmung und Umverteilung nach oben, durch Sozial- und Grundrechtsabbau geprägten Lage beteiligt war und ist. Das whk geht davon aus, daß Ihr Euch nicht mit Allgemeinplätzen zu ADG, Lebenspartnerschaft und Adoptionsrecht abspeisen laßt, sondern die Ministerin außerordentlich kritisch zu existentiellen Themen in die Zange nehmt. Da auf Eurer Agenda laut Vorjahresbeschluß die jugendpolitische Programmatik des LSVD steht, drängt sich hier bestimmt auch Euch die Frage auf, wie sich die Ministerin das Dasein jugendlicher ALG-II-Empfänger im oder nach dem Coming-out vorstellt, die nach der von ihr mitbeschlossenen und am 17. Februar 2006 in Kraft getretenen Regelung in keine eigene Wohnung umziehen und bei Strafe des Leistungsverlustes gezwungen werden dürfen, bis zum 25. Lebensjahr bei ihrer eventuell homophoben Familie zu leben. Ohnehin bekommen sie nur noch 80 Prozent eines demütigenden Regelsatzes. Selbstredend werden die in polit-ökonomischen Basics geschulten LSVD-Gründerväter die Sozialdemokratin daran erinnern, daß die sexuelle Freiheit des Individuums dessen wirtschaftliche Souveränität voraussetzt und sich an keinem anderen Punkt als diesem der Wille zu dem erweist, was Ihr "Gleichstellung" und "Antidiskriminierung" nennt. Oder um Euer Verbandstags-Motto auf gesellschaftswissenschaftlich solides Terrain zu stellen: Gleiche Rechte bei gleichem Wohlstand. Nur das ist fair!
Wie Ihr wißt, stoßen die Ansätze des whk auch bei vielen Eurer Mitglieder auf Interesse nicht nur dank des günstigen LSVD-Abos unserer sexualpolitischen Zeitschrift Gigi. Daran anknüpfend möchten wir die Anregung eines jüngeren LSVD-Mitgliedes aufgreifen, doch ungeachtet politischer Antagonismen punktuell zu kooperieren, wo dies möglich erscheint. Und so regen wir hiermit eine gemeinsame Initiative zur Entschädigung der noch lebenden Opfer des § 175 an, der bis 1969 in der BRD in der von den Nazis 1935 verschärften Fassung galt.
Wie Ihr wißt, scheiterte 2002 das "Gesetz zur Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung" zur kollektiven Entschädigung für die von den Nazis zerstörte homosexuelle Infrastruktur am Bundesrat. Allerdings hatte es der Bundestag zuvor mehrheitlich beschlossen trotz einer formaljuristisch an sich unzulässigen Erblinie, die heutige Institutionen ins Erbe der damals aufgelösten und enteigneten einsetzte. Die Idee des whk wäre es nun, nach genau diesem Modell eine Erblinie von den niemals individuell entschädigten, bis auf ganz wenige verstorbenen Rosa-Winkel-Häftlingen hin zu den bis 1969 nach demselben NS-Paragraphen verfolgten und von großenteils denselben reingewaschenen NS-Richtern in dieselben Zuchthäuser gebrachten Männern zu konstruieren. Dem müßte freilich die bisher vom Rechtsnachfolger des "Dritten Reiches" beharrlich verweigerte Rehabilitierung jener um ihr Lebens- und Liebesglück, ihre Familie, Wohnung, berufliche Existenz, Renten- und Versorgungsansprüche und nicht zuletzt ihre Gesundheit gebrachten Zehntausenden vorausgehen.
Dies hieße nicht mehr und nicht weniger, als Regierung und Parlament eines Staates moralisch, politisch und finanziell in die Pflicht zu nehmen, der in seinen Gründungsjahren Tausenden Nazi-Richtern wieder in die Roben half und den Nazi-Paragraphen 175 bis heute als demokratisch legitimiert, indem er sich weigert, die nach ihm ergangenen Nachkriegsurteile als nach typischem NS-"Recht" gefällt aufzuheben. Ihr habt heute eine ranghohe Repräsentantin dieses Staates auf Eurem Verbandstag zu Gast. Es wäre also eine gute Gelegenheit, den Lackmustest auf ihre Haltung zur Homosexuellenverfolgung zu machen zumal in ihrem Ressort und gerade im für Schwule historisch besonders leidvollen Sexualstrafrecht neuerdings wieder auf Konzepte wie lebenslängliche "Sicherungsverwahrung" zurückgegriffen wird, und zwar ohne Distanz zu NS-Begrifflichkeiten wie "Schutzhaft".
In diesem Sinne wünschen wir Eurem 18. Verbandstag fruchtbare und vor allem nachhaltige Debatten.
Eike Stedefeldt
whk Berlin / AG Schwulenpolitik