Wie sich die Entsorgung
des ganzen Demokratie- und Sozialklimbims auf individuelle Lebens- und
Familienverhältnisse nicht nur am unteren Rand des Einkommensspektrums
auswirkt, beschrieb im Jahre 2004 die WDR-Journalistin Gabriele Gillen in
ihrer vieldiskutierten und von Massenmedien umso heftiger beschwiegenen Streitschrift
Hartz IV eine Abrechnung: Die Familie heute, weit
entfernt vom alltäglich gelebten Generationenvertrag unter einem Dach,
... wäre besonders auf jene Sicherungssysteme angewiesen, die der Staat
oder richtiger die Wirtschaft nicht mehr finanzieren will. Stattdessen werden
nun lose verwandtschaftliche Verbindungen dazu aufgefordert, gesetzlich verordnete
Verantwortung zu übernehmen. Ein großartiger Plan, um Millionen
von Menschen neben der materiellen und sozialen Demütigung auch noch
der ganz privaten Würde zu berauben. Denn, so erläutert Gillen,
zuständig für die bloße Existenz von Hartz-IV-Empfängern
sei damit nicht mehr der Staat, sondern vor allem Eltern oder Partner
in der neuen deutschen Bedarfsgemeinschaft. Welche Gefühlszeitbomben
aus Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, aus Demütigung und
Scham in bisher vielleicht noch halbwegs freiwillige und gleichberechtigte
Solidargemeinschaften da geworfen werden, kann man sich mit einiger Phantasie
leicht vorstellen ... Nun soll es also die Familie richten. Und
die war im Kapitalismus noch nie ein Hort von Geschlechtergleichheit und Emanzipation.
Zu einer Zeit, als Politikerinnen
der Bündnisgrünen wie Katrin Göring-Eckardt fröhlich den
Sozialstaat begruben und ohne jeden Anflug von Trauermiene wissen ließen:
Wir wollen, daß Hartz IV Wirklichkeit wird, analysierte
Gillen scharfsinnig, daß diese nicht nur von der Regierungspartei der
Besserverdienden betriebene Wirklichkeitswerdung kaum ohne Folgen auch auf
Liebes- und Beziehungsmöglichkeiten des Einzelnen bleiben würde:
Hartz IV favorisiert einen Menschentyp, der als Einzelkämpfer durchs
Leben geht, weshalb Gillen den Betroffenen im zynischen Ton von Leuten
wie Göring-Eckardt sarkastisch rät: Wenn Sie Streicheleinheiten
brauchen oder ein schummriges Gemeinschaftsgefühl, dann besuchen Sie
einen Massagesalon oder werden Sie Mitglied in einem Chor. Und machen Sie
für den Rest ihres Lebens den One-Night-Stand zum Lebensprinzip. Trennung
vor dem Frühstück, damit Ihr Fallmanager (bei der Bundesagentur
für Arbeit Gigi) bloß nicht auf den Gedanken kommt, daß
Sie beim anschließenden AIDS-Test für die Praxisgebühr ihres
Sexualpartners aufkommen müssen. (Vgl. hierzu Klassenfrage
Bumskontrolle in Gigi Nr. 41, Seite 26)
Als Gillen seinerzeit
ihre Polemik formulierte, konnte sie kaum ahnen, daß dereinst eine schwarz-rote
Bundesregierung die Förderung der Mehrgenerationenfamilie
nach dem Motto Alle unter einem Dach sogar in einen Koalitionsvertrag
aufnehmen würde als angeblich moderne Form des Zusammenlebens,
die freilich nach jüngsten Angaben des Statistischen Bundesamtes gerade
mal von 0,7 Prozent der Bevölkerung tatsächlich noch gelebt wird
(1973: 3,3 Prozent). Alle unter einem Dach darf aber nicht mit bunt aus Freiwilligen
zusammengewürfelten Wohngemeinschaften und -projekten verwechselt werden,
deren Zahl in den nächsten Jahren zweifellos abnehmen wird. Wir haben
es nicht mit Oma und Enkel vorm Kamin zu tun, sondern mit knallharter Machtpolitik:
Denn nur wo Verwandte zusammenleben (müssen), kann der Staat diese zwingen,
einen arbeitslosen, kranken, alten oder jungen (!) Mitbewohner finanziell
mitzuversorgen. Wenns sein muß, von der Wiege bis zur Bahre. Müntefering
plant unser Leben: bis 67 bei Mama und dann in die Rente, kommentierte
Nele Hirsch von der Bundestagsfraktion der Linkspartei die neue Modernität.
Da sich derlei familiäre
Abhängigkeit wohl niemand sehenden Auges zuzumuten gedenkt, wird eben
die Staatsmacht ist ja nicht doof mit Zwang und Blitzgesetzen
nachgeholfen, wie aus einer öffentlich kaum bemerkten Meldung des Parlaments-Pressedienstes
Heute im Bundestag (HiB) vom 15. Februar 2006 zu erfahren ist. Demzufolge
werden ALG-II-Bezieher unter 25 Jahren künftig in die Bedarfsgemeinschaft
ihrer Eltern einbezogen und bekommen nur noch 80 Prozent des Regelsatzes ...
Die Bundesregierung stellte klar, daß sowohl Erstauszüge als auch
alle möglichen weiteren Umzüge nach dem 17. Februar für jugendliche
ALG-II-Bezieher genehmigungspflichtig seien, so HiB. Es sei sogar praktisch
denkbar, daß Jugendliche unter 25 Jahren, die zunächst mit
Genehmigung des Amtes eine eigene Wohnung beziehen und dann später nochmals
umziehen wollten, an die Bedarfsgemeinschaft der Eltern zurückverwiesen
werden könnten.
Nochmal im Klartext: Wer
keinen Job oder Ausbildungsplatz hat und deswegen auf finanzielle Unterstützung
angewiesen ist, bekommt weniger vom Staat und muß sich den Wegzug aus
dem Elternhaus künftig amtlich genehmigen lassen. Wer einfach so auszieht,
bekommt keinerlei Unterstützung, und wer erst eine Erlaubnis bekam und
dann abermals umziehen will (oder muß!), kann gezwungen werden, ins
Elternhaus zurückzukehren. Der wegen seiner lesbischen Tochter Mirjam
erst kürzlich mit der Kompaßnadel des Schwulen Netzwerks Nordrhein-Westfalen
prämierte Bundessozialminister Franz Müntefering erklärte,
mit der nur zwei Tage nach Bekanntgabe durch HiB am Stichtag 17. Februar
schon in Kraft getretenen Regelung sollten Fehlentwicklungen
korrigiert werden. Mag man sich ausmalen, welche schwerwiegenden Fehlentwicklungen
das eigene Töchterlein erlitten hätte, wäre sie gezwungen worden,
bis zum 25. Lebensjahr Haus und Hof mit einem Politiker-Papa zu teilen, der
solche Gesetze mit ausbaldowert und verantwortet?
Es war einmal mehr das
diese Zeitschrift herausgebende whk, das bereits am 22. November vergangenen
Jahres darauf hinwies, daß sich die Stallpflicht bis 25
(junge Welt) wohl kaum förderlich auf ein streßfreies (homo-) sexuelles
Coming out auswirken dürfte. (Vgl. Jetzt isses amtlich (1),
Gigi 41, Seite 37).
Gibt es gute Nachrichten? Nun ja. Mirjam Müntefering bekam vom Herrn
Papa weiland sicher mehr Zeit für den Umzug als nur zwei Tage, zumindest
sie blieb damit eventuell von schlimmem Eltern-Terror verschont. Und Gabriele
Gillens Hartz-IV-Buch wird inzwischen für 2,99 Euro auf Grabbeltischen
verramscht, womit es endlich erschwinglich ist für Leistungsempfänger
im Hotel Mama.